Die Zukunft fällt nicht einfach vom Himmel

Über ein Innovationsökosystem für SEKEMs Entwicklungsziele 2057

Der SEKEM Gründer Ibrahim Abouleish war der visionäre Führer der SEKEM Gemeinschaft, der Okzident und Orient in seiner Seele vereinte. Sein Charakter zeichnete sich durch Empathie, Inspiration, Enthusiasmus und die rationale Suche nach Wissen aus. Diese Qualitäten in sich vereint, konnte er SEKEM, das Wunder in der Wüste, gemeinsam mit Familie, Freunden und Mitarbeitern verwirklichen.

Seine visionäre Kraft wurzelte einerseits tief in der altägyptischen Kultur und den Kernprinzipien des Islam, wurde andererseits aber auch stark von der europäischen Philosophie, vor allem der Anthroposophie inspiriert. Seine Vision von der Schaffung eines viergliedrigen Gemeinwesens, das ökologisches, wirtschaftliches, kulturelles und gesellschaftliches Leben für nachhaltige Entwicklung vereint, ist eine fortwährende Reise auf der wir uns befinden. Ibrahim Abouleish selber sprach immer wieder von einem 200-Jahresplan, den es bräuchte, um seine Vision ganz und gar Realität werden würde. Die Vision einer Gemeinschaft, „in der jeder Mensch sein individuelles Potenzial entfalten kann; in der die Menschheit in sozialen Formen zusammenlebt, die die Menschenwürde widerspiegeln; und wo alle wirtschaftlichen Aktivitäten in Übereinstimmung mit ökologischen und ethischen Prinzipien durchgeführt werden.“

Bewusstsein über zwei Zukunftsformen

Ibrahim Abouleish skizzierte mit seiner Vision eine Zukunft, die auf uns zukommt und keine bevorstehende Zukunft, die darauf wartet, erschaffen zu werden. Der Schweizer Philosoph Stefan Brotbeck beschreibt in seinem Buch “Zukunft” zwei Zukunftsqualitäten und nennt diese Futurum und Adventus. In Anlehnung an Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie, sagt er: “Das Leben wird von zwei Strömen geprägt, einer kommt aus der Vergangenheit und eilt der Zukunft entgegen und der andere fließt aus der Zukunft und strebt der Vergangenheit entgegen.”

Futurum steht für das Vorwärtskommen, das Beginnen, von dem was ich sehe. Es kann als ein leerer Raum verstanden werden, in den wir unsere Pläne projizieren. Im Gegensatz dazu repräsentiert Adventus eine Strom-Bewegung, die empfängt, was auf uns zukommt – ein Ereignisraum, der mit großen Erwartungen gefüllt ist. Beide Ströme sind von gleichwertiger Bedeutung für die Entwicklung einer nachhaltigen Vision. Ibrahim Abouleish verstand es, diese beide Qualitäten zu vereinen, indem er die Realisierung der SEKEM Vision studierte, Ziele setzte und Handlungen ableitete. Er ließ dabei aber immer freie Räume für Unbekanntes offen. So versuchen nun auch wir stets, die Qualitäten von Futurum und Adventus in unserem Handeln zu berücksichtigen, um im Geiste dieser beiden Qualitäten die Zukunft SEKEMs zu entwickeln.

Innovationsökosystem für SEKEMs Vision 2057

Mit Hilfe der beiden Zukunftsformen und mit Blick auf die kommenden 40 Jahre hat SEKEM eine Vision, Mission und Ziele für 2057 entworfen. Die darin enthaltene Ägypten-Vision mag manch einem aus heutiger Sicht völlig verrückt und unrealistisch erscheinen – wir verstehen diese jedoch unter der Berücksichtigung von Adventus und wollen bewusst an unserem Kredo „Unmögliches möglich machen“ festhalten. Gleichzeitige richten wir unseren Blick auch ins Futurum, indem wir den 18 Visionszielen eine konkrete Mission und Ziele für SEKEM zugeordnet haben. Wie wollen wir all dies nun tatsächlich erreichen?

Als nachhaltige Entwicklungsgemeinschaft müssen wir mehr und mehr lernen, wie wir uns gezielt mit der Dynamik sozialer Innovation auseinandersetzen können. Dieser Prozess wurde bisher hauptsächlich von Ibrahim Abouleish selbst übernommen. Nun hat sein Sohn, SEKEMs Geschäftsführer, Helmy Abouleish diese Rolle übernommen. Helmy ist es aber ein großes Anliegen, dass die Führungspositionen für soziale Innovation unter den Mitgliedern der Gemeinschaft aufgeteilt werden. Nicht nur eine Person, sondern viele weiter von uns, sollten als „Champions“ ein innovatives Ökosystem weiterentwickeln, um unsere Vision und Ziele in der Zukunft zu erreichen – nach dem Motto “gemeinsam sind wir stark”. Wie genau kann das aussehen?

Eine grafische Zusammenfassung des Innovationsökosystems, das aus verschiedenen Rollen besteht, die für den Prozess einer sozialen Innovation zum Erreichen der SEKEM-Ziele 2027 notwendig sind.

Für ein Innovationsökosystem sind unterschiedliche Rollen erforderlich, die den Prozess der sozialen Innovation leiten, Herausforderungen angehen und SEKEMs Ziele für 2027 voranbringen. Unterschiedliche Menschen können verschiedene Rollen einnehmen, wobei eine Person auch mehrere Rollen innehaben kann.

Die Rolle des “Steuermanns“ am Anfang des Innovationsprozesses

Zunächst ist da der Steuermann oder die Steuerfrau. Diese Rolle besteht darin, sich mit der lokalen Identität zu verbinden. Denn: Die äußere Form eines Organismus kann sich verändern, aber die Identität bleibt bestehen. Ein Beispiel dafür ist etwa die Raupe, die sich in einen Schmetterling verwandelt. Diese Transformation zeigt den Rhythmus zwischen Leben und Tod, Schöpfung und Zerstörung.

So verändert sich auch die Form eines sozialen Organismus ständig. Noch vor einem Jahrzehnt war es undenkbar, dass SEKEM eine Universität eröffnen würde, wenngleich ein Ort der Bildung, Wissensgenerierung und Forschung stets in SEKEMs Vision präsent war. Der erste Schritt in diese Richtung war die Heliopolis Academy, die zu den Herausforderungen, mit denen sich SEKEM konfrontiert sah – insbesondere in der Landwirtschaft und im Bereich pflanzlicher Arzneimittel – Forschung betrieb. Heute ist die Heliopolis Universität für nachhaltige Entwicklung Realität geworden – mit mehr als 1.700 Studenten in drei verschiedenen Fakultäten.

Aber wie ist es zu diesem Transformationsprozess gekommen? Waren es vielleicht sogar die damaligen Ereignisse in Ägypten und in der Welt, die dem lang gehegten Traum von einer Universität endlich die Chance gaben, Wirklichkeit zu werden? Sicherlich war das Gespür und die Kreativität Ibrahim Abouleishs von großer Bedeutung. Er erkannte den richtigen Moment und wusste, was zu tun war. Eine solche Rolle kann nur von einer Person wahrgenommen werden, die tief mit der Identität der Gemeinschaft oder Organisation verbunden ist und die als Führungspersönlichkeit unter den Gemeinschaftsmitgliedern anerkannt ist.

Die Rolle des Steuermanns war in SEKEM also deutlich von Ibrahim Abouleish besetzt und wurde zunehmend von Helmy Abouleish übernommen. Je nach Ziel kann sich die Steuermann-Rolle allerdings ändern. Wir alle müssen nun neue „Stewards“ identifizieren, die in der Lage sind die Adventus-Zukunft als Element unserer Vision 2057 zu erkennen, sodass der Grundstein für einen Impuls aus der Zukunft gelegt werden kann. Es erfordert ein tiefes Wissen, Respekt und Charisma, um anderen die Richtung weisen können und die Gemeinschaft zu aktivieren. Denn: Der Steuermann erweckt den Transformationsprozess zum Leben und kann die notwendigen Ressourcen mobilisieren. Er steht am Anfang eines sozialen Innovationsprozesses.

„Katalysatoren“ zur Erweckung des integralen Bewusstseins

Weitere wichtige Rollen sind die Katalysatoren. Sie werden von Menschen besetzt, die das Ökosystem mit neuen Inspirationen und Ideen bereichern und oft von außen oder der direkten Umgebung kommen. So können Katalysatoren beispielsweise Buch-Autoren, Freunde der Gemeinschaft oder auch Künstler und Experten bestimmter Gebiete sein. Der SEKEM-Morgenkreis, der täglich in der Frühe stattfindet, ist beispielsweise ein Raum für solche Katalysatoren. Dort werden Wissen und Impulse ausgetauscht und das ganzheitliche Bewusstsein der Gemeinschaftsmitglieder geweckt.

Laut Dr. Ronnie Lessem, einem der Gründer des Innovationsnetzwerkes Trans4m, ist ein widerstandsfähiges Ökosystem an seine natürliche Vielfalt gebunden. Um Resilienz einer Identität, die in der Vision verankert ist, zu schaffen, ist die Berücksichtigung von Vielfalt wichtig – und das kann durch die „Katalysatoren“ geschehen. Dies kann auch in der Natur, am Beispiel des ökologischen Landbaus, verdeutlicht werden: Monokultur wird hier vermieden, um Schädlingsbefall entgegenzuwirken. Stattdessen spielen die Fruchtfolge und Vielfalt eine große Rolle, wenn es um die Förderung von Bodenfruchtbarkeit geht. So ist es auch im sozialen Kontext wichtig, eine “Monokultur” aus der einseitigen Weltsicht einzelner zu verhindern und vielmehr die Diversität verschiedener Anschauungen und Meinungen zu integrieren.

Durch SEKEMs großes nationales und internationales Netzwerk haben viele Katalysatoren ihren Weg in unsere Gemeinschaft in der Wüste gefunden und einen bereichernden Austausch von Inspirationen ermöglicht. Die Zusammenarbeit mit Trans4m ist ein Beispiel dafür. Im letzten Jahrzehnt haben wir mit den Gründern Ronnie Lessem und Alexander Schieffer einen intensiven Dialog gepflegt. Sie haben die Universitätsgründung stets begleitet und im Rahmen vieler Besuche Workshops und Seminare zum Thema soziale Innovationen gehalten. Im Gegenzug konnte SEKEM als lebendiges Praxis-Beispiel einen Beitrag zu den Theorien von Lessem und Schieffer leisten.

Die Aufgabe SEKEMs besteht nun darin, das Netzwerk von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und neuen Generationen weiterzuentwickeln, um so die internen wie globalen Entwicklungsimpulse zu erneuern. Mit dem lokalen und globalen Wissen, das durch den Austausch mit den Katalysatoren entsteht, wird eine Grundlage für neue Wissensgenerierung und Innovation geschaffen. Dies muss in Forschungsaktivitäten fortgesetzt werden, die dieses Wissen an den lokalen Kontext anpassen und Lösungen für die Herausforderungen unserer Gemeinschaften finden.

Die Rolle von Forschung im Sozialen

Um den Überblick zu behalten und in der Komplexität SEKEMs die Ziele nicht aus den Augen zu verlieren, braucht es neben den Rollen Steuermann/frau und Katalysatoren die Forscher. An der Heliopolis Universität gibt es bereits mehrere Forscher, die vor allem in den naturwissenschaftlichen Bereichen ihre Relevanz und Wirksamkeit bewiesen haben. Was wir für den Prozess der sozialen Innovation nun vermehrt benötigen, ist sozialwissenschaftliche Forschung.

Zusammen mit „Trans4m“ haben wir ein Format entwickelt, in dem ausländische Studierende für ein halbes Jahr nach SEKEM kommen und hier ihre Abschlussarbeiten schreiben. So hat beispielsweise Claudius Baumer aus Deutschland, 2015 seine Diplomarbeit mit dem Titel „Beyond Sustainable Development Reporting – Integral Sustainability Controlling“ für die SEKEM-Initiative in Ägypten geschrieben. Sein Beitrag bestand nicht nur darin, unser bestehendes Indikatoren-Set für die Nachhaltigkeitsblume zu überarbeiten, sondern auch eine technologische Infrastruktur einzurichten, um Daten zu sammeln und monatliche Berichte zu erstellen. Annina Hunziker aus der Schweiz, hat 2016 über „Integral Project Management – The integral way to lead projects in a holistic, sustainable way with transformative impact benefiting employees, customers and society” in SEKEM recherchiert.

Viele weitere Personen und Institutionen haben über SEKEM geschrieben, geforscht und relevantes Wissen aufgebaut. Nun stellt sich die Frage, wie wir all dieses Wissen in die Praxis integrieren können. Ohne Praxisanwendung und wenn die Forschung nicht durch ein lokales/globales Bewusstsein bereichert wird, werden wir von dieser Gestaltungsform nicht profitieren können. Dazu benötigt es eine weitere Rolle, die das Innovationsökosystem vervollständigt.

 

Transformation endet mit der Umsetzung

Trotz fundierten globalen Wissens und neuen Denkmustern, wird deutlich, dass wir die komplexen Herausforderungen unserer Zeit nur langfristig bewältigen können, wenn wir in der Lage sind, konkrete Lösungsansätze tatsächlich umzusetzen – und dies mit Rücksicht auf die Systeme, die unserer Organisation zugrunde liegen. Damit meine ich ein soziales Untersystem, auf das Gruppen und menschliche Beziehungen innerhalb einer Organisation aufgebaut sind. Dieses Beziehungsgeflecht ist von zentraler Bedeutung für die Identität einer Organisation, denn darauf aufbauend beeinflussen wir nicht nur die Unternehmenskultur, sondern auch konkrete Arbeitsprozesse. Es gibt also eine Begleitkraft, die in engem Zusammenhang mit der Futurum-Qualität steht – der Planung konkreter Schritte zum Erreichen der angestrebten Ziele. Was bedeutet das für unser Innovationsökosystem und welche Rolle benötigt es?

Es benötigt eine Umsetzer-Rolle, die offen für neue Impulse sein muss. Alle unsere Ziele benötigen einen gewissen sozialen Wandel, indem sie etwa eine neue Praxis und Kultur des Tuns voraussetzen. Ohne starke Umsetzer, die diese Praxis zum Leben erwecken, kann es keine Innovationen geben. Diese Rollen nehmen in SEKEM viele verschiedenen Menschen ein, die wir traditionell als Manager bezeichnen können – auch Universitätsprofessoren gehören dazu, sofern sie in der Lehre stehen. Diese Menschen halten die exekutive Macht inne und treffen Entscheidungen, die die Umsetzung zahlreicher Projekte beschleunigen.

All die genannten Rollen sind in sich stimmig und haben ihre Existenzberechtigung. Aber wer kann da noch den Überblick behalten? Nun wird eine letzte Rolle benötigt, die in der Lage ist, das große Ganze im Blick zu behalten und die Rollen entsprechend zu inszenieren.

Soziale Innovation als ständiger Tanz

Diese letzte Rolle des Integrierers ist entscheidend für den gesamten sozialen Innovationsprozess. Seine Aufgabe ist es, die Besetzung für die Rollen Steuermann/frau, Katalysator, Forscher und Umsetzer zu finden. Er führt die Fäden des gesamten Innovationsökosystems zusammen und wird auch für jedes einzelne Visionsziel gebraucht.

Mit Hilfe dieses Rollen-Konzeptes von Lessem sind wir in der Lage SEKEMs Ziele besser zu adressieren. Dabei ist es stets wichtig, zwischen den Rollen und den Personen, die diese ausfüllen, zu unterscheiden. Wie bereits erwähnt, ist es nicht untypisch, dass ein Integrierer auch als Steuermann aktiv ist oder andere Rollen inne hat. Wichtig ist, dass keine Rolle fehlt beziehungsweise nicht ausgefüllt wird.

Um die SEKEM-Unternehmen, -NGOs und die Heliopolis Universität, die gemeinsam die SEKEM Initiative darstellen, zu organisieren, hat Helmy Abouleish dieses Konzept der strukturellen Innovationsökosysteme vorgestellt. Nun gilt es zu schauen, wer macht was und welche Personen beleben gemeinsam die verschiedenen Visionsziele. Die Herausforderung liegt vor allem in der inter-institutionellen Zusammenarbeit!

Für die Zukunft SEKEMs

Wir in SEKEM glauben, dass das Modell des Innovationsökosystems eine Kraft ist, die es SEKEM ermöglicht, sich zukunftsfähig weiterzuentwickeln – eine Kraft, durch die die vier Dimensionen lebendig bleiben. Die verschiedenen Rollen streben nach einem natürlichen Gleichgewicht, so wie es die alte ägyptische Gottheit Maat getan an. Für Ibrahim Abouleish war diese Sinnbildlichkeit von großer Bedeutung – nicht zuletzt, weil sich in ihr die Verbindung aus lokaler und globaler Identität zeigt

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Wahrnehmung Sozialer Innovation: Transformation von Organisationen