Im Rahmen der Wintertagung der Bäuerlichen Gesellschaft/Demeter im Norden, die vom 12. bis 13. Januar im Landgut Stemmen Norddeutschland stattfand, hat SEKEM-Mitarbeiter Maximilian Abouleish-Boes über SEKEM als Organisation im Wandel berichtet. Die Hauptpunkte seines Vortrag hat er im folgenden Essay verschriftlicht.
Die Welt ist im Umbruch
Überall auf der Welt kann man Krisen beobachten. Die Nachrichten sind voll davon und manchmal frage ich mich, wie lange das noch so weitergehen kann. Egal ob in Deutschland, Ägypten oder anderswo: Wir stehen vor systemischen sozialen und ökologischen Herausforderungen, die man nicht mit den heute vorherrschenden politischen und wirtschaftlichen Systemen in den Griff bekommen kann. Ganz einfach deswegen, weil diese Systeme die Probleme selber erzeugt haben. Wie wir in der Geschichte und auch in der Natur beobachten können, braucht es eine höhere Systemlogik, also in Bezug auf den Menschen eine nächste Stufe von Bewusstsein, die eine nötige Veränderung oder vielmehr Transformation erreichen und mit der Komplexität der Probleme umgehen kann. Die Gesellschaft braucht soziale Innovationen!
Biodynamische Landwirtschaft, so wie sie von Rudolf Steiner in dem Landwirtschaftlichen Kurs beschrieben wird, ist nicht nur eine ökologische, sondern vielmehr auch eine solche soziale Innovation. Sie richtet sich in ihrer Ausgestaltung des Farmorganismus am Menschen aus – das heißt, diese Form der Landwirtschaft begreift sich als ein, in sich geschlossenes System, das dem Menschen ähnlich ist und das zu der nachhaltigen Entwicklung der Erde beitragen kann. Vielfalt ist dabei ein zentrales Element des Farmorganismus und schließt das harmonische Zusammenspiel von Mineralien, Pflanzen und Tieren ein, die der Mensch organisiert. Entscheidend ist auch, wie der Farmorganismus in die Wertschöpfungskette von der Farm bis zum Konsumenten eingebettet ist.
Assoziative Wirtschaft durch neue Formen von Organisation
In den vorherrschenden Wirtschaftssystemen, die die globale Welt dominieren, geht es im Kern um Profitmaximierung im freien Wettbewerb – der Stärkerer gewinnt. Dieses Prinzip läuft vielen Elementen der biodynamischen Bewegung zuwider und stellt die Vielfalt von einem Farmorganismus oder das Zeitnehmen zur Herstellung von einer tiefen Verbindung zwischen Mensch, Natur und Kosmos in Frage. Die Demeter-Marke wird immer gefragter, aber der rasant steigende Bedarf und die damit einhergehenden Preiskämpfe entsprechen nicht der Idee des Assoziativen Wirtschaftens. Assoziatives Wirtschaften bedeutet im Kern, dass alle Beteiligten in der Wertschöpfungskette ausreichend vom geschaffenen Wert erhalten, um sich frei entwickeln zu können – körperlich, seelisch und geistig.
SEKEM ist ein Entwicklungsimpuls, der bereits viele Elemente des assoziativen Wirtschaftens verkörpert. Hier sind Farmen, verarbeitende und veredelnde Betriebe unter einem Dach zusammengefasst und werden zentralistisch geführt. Dies hat zum Vorteil, dass Gewinne gerecht verteilt werden können, wenngleich der Preisdruck von Vertriebspartnern und Konsumenten deutlich spürbar ist. In Zeiten der Krise können so die starken Teile der Wertschöpfungskette, den Schwachen aushelfen. Ein Bild eines lebendigen Organismus entsteht.
Frederic Laloux, ein belgischer Organisationsberater und -entwicklungsforscher hat in seinem Buch Reinventing Organizations eindrücklich dargestellt, dass menschliche Bewusstseinsentwicklung mit neuen Organisationsformen einhergeht. Man kann in der Geschichte der Menschheit verschiedene Muster erkennen, wie sich Menschen organisieren – von umhertreibenden Banden, zu Stammeskulturen, zu Staatsapparaten und bürokratischen Organisationen, bis hin zu globalen Unternehmen oder Wertegemeinschaften. Fakt ist aber, dass in den vergangenen Jahrhunderten ein hierarchisches Modell, die auf der Welt vorherrschende Organisationsform darstellt. Es drängt sich aber die Frage auf, ob diese Organisationsform noch adäquat auf die bestehenden Herausforderungen reagieren und mit der Komplexität der Welt umgehen kann? Das Problem bei hierarchischen Organisationen ist, dass die Entscheidungsgewalt sehr zentralisiert ist und oft von Machtmustern eines vorherrschenden Patriarchats durchzogen ist. Dem Anpassungsdruck an der Peripherie der Organisation kann oftmals nicht schnell genug Folge geleistet werden. Der US-amerikanische Management-Guru Peter Drucker hat dies bezeichnen zum Ausdruck gebracht: “Heutzutage sterben mehr Organisationen denn je an Verdauungsproblemen und nicht an einem Hungertod”. Es herrscht ein allgemein anerkannter Mangel an agilen Strukturen und flexibler Anpassung. Laloux sagt aber auch, dass überall auf der Welt neue Organisationsformen in der Entstehung sind.
Neue Organisationsformen entstehen
Laloux beschreibt drei Durchbrüche von Organisationsformen, die dem neuen integralen Zeitalter entsprechen: Ganzheitliche Betrachtung des Menschen, Selbstorganisation, und evolutionärer Sinnzweck der Organisation.
Die ganzheitliche Betrachtung des Menschen bedeutet in dem Zusammenhang, dass man die Person nicht nur auf ihre zu erbringende Arbeit reduziert oder auf das Bild eines Kostenträgers. Menschen in ihrer Ganzheit wahrzunehmen, meint auch, auf ihre Charaktereigenschaften und Persönlichkeiten einzugehen. Dahinter liegt die Überzeugung, dass nur Menschen, die intrinsische motiviert sind und sich auch mit ihren Stärken und Schwächen in eine Gemeinschaft eingebunden fühlen, gute Arbeit leisten wollen.
Selbstorganisation zielt darauf ab, den Menschen für die jeweiligen Bereiche volle Verantwortung zu übertragen und die Eigeninitiative zu fördern. Entscheidungen können somit an der Stelle getroffen werden, wo sie relevant sind. Dies hat natürlich zur Folge, dass die zentrale Macht aufgegeben werden muss und die hierarchische Verantwortung dezentralisiert wird.
Aus den beiden vorher genannten Durchbrüchen kann ein Entwicklungsfeld für die Organisation entstehen, in der sich der Sinnzweck der Organisation an sich ändert. Dies beruht darauf, dass sich Menschen mit ihren Stärken und Interessen in die Organisation einbringen und in Eigenverantwortung Handlungen vornehmen, die neue Wirkungsfelder für die Organisation als Ganzes eröffnen. Der Fokus auf einen evolutionären Sinnzweck macht auch deutlich, dass sich Menschen nicht mehr nur einer Person oder einer Marke bzw. einem Unternehmensnamen verschreiben, sondern den Sinn und die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit als Orientierung für ihre Arbeit sehen.
“. . . ein jedes Individuum dazu befähigen, einen intelligenten Beitrag zum großen Ganzen zu leisten.”
Interessant ist es, dass dieser Entwicklungsweg bereits vor einigen Jahrzehnten von Bernard Lievegoed und später auch Friedrich Glasl angedacht und mit den verschiedenen Entwicklungsphasen der Organisation beschrieben wurde. Darin ist ein Prozess verdeutlicht, der die Organisation als ein sich wandelndes Wesen beschreibt, das sich von der Pionierphase, über die Differenzierungsphase, hin zur integralen Phase entwickelt, und ultimativ in einer Assoziationsphase ankommen kann. Darin ist eine Art Reifung des Wesens der Organisation zu erkennen, die ähnlichen Prinzipien folgt, wie wir sie auch in der Natur beobachten können. Verschiedene Wesenselemente der Organisation durchlaufen dabei Reifungsprozesse und eine nächste Phase entsteht aus den Wachstumsschmerzen der vorherigen Phase. Damit ist genau die Art von sozialer Innovation beschrieben, die eingangs angedeutet wurde und, die eine Organisation dazu befähigt, immer komplexere Herausforderung zu verarbeiten. Das was Laloux als neue Organisationsform beschreibt, kann man also gleichsetzen mit der integralen Phase einer Unternehmung, die zum Ziel hat, ein jedes Individuum dazu zu befähigen, einen intelligenten Beitrag zum großen Ganzen zu leisten. Davon sind wir in SEKEM und auch die gesamte Welt sicherlich noch weit entfernt – das soll uns aber nicht am Üben hindern.
Dies deutet auf die zentrale Herausforderung der Bewusstseinsentwicklung aller Beteiligten hin, die einen lebendigen Organismus als Ganzes formen und darin wirken. Führung bekommt dabei eine ganz neue Qualität und die integrale Phase ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass sich verschiedene Organisationen entlang einer Wertschöpfungskette in Assoziationen zusammenfinden können. Das Bilden einer integralen Phase innerhalb einer Organisation kann meines Erachtens auch als eine Art Schulungsweg betrachtet werden, da dies nur mit tiefgreifenden Änderungen im Verhalten und im Bewusstsein einhergehen kann.
Mit Fragen führen
In der Integrationsphase liegt der Fokus auf der Ausbreitung des kulturellen Subsystems der Organisation, das heißt, Vision, Identität oder Strategie dürfen nicht ausschließlich den obersten Führungskräften gehören, sondern werden kollektiv von den Mitarbeitern getragen. Dadurch können das bestehende soziale Subsystem (der Pionierphase) und das technisch-instrumentelle Subsystem (der Differenzierungsphase) eine andere Synergieebene erlangen, weshalb es als “Integrationsphase” bezeichnet wird. Dies kann nur erreicht werden, wenn eine Art Unternehmergeist bei allen Mitarbeitern mit Ausrichtung auf die organisatorischen Ziele unterstützt und geweckt wird.
Dies ist momentan wohl noch schwer vorstellbar angesichts der unterschiedlichen Bewusstseinsstufen der Beschäftigten, die größtenteils nach starker Führung und Anweisung von Autorität verlangen. Oder sind es eher die Führungskräfte, die durch ihre Sozialisierung und Erfahrung nicht gewohnt sind, Macht abzugeben und anstatt durch Antworten eher durch Fragen zu führen?
Der Ruf nach Eigenverantwortung
Meiner Erfahrung nach muss der Ruf nach Eigenverantwortung und Unternehmertum nicht notwendigerweise ein hohes Maß an Komplexität umfassen, sondern eher die Initiative innerhalb der Person erwecken, Verantwortung für etwas zu übernehmen, um Herausforderungen zu meistern, seien sie noch so überschaubar. Anstelle einer vertikalen Ausrichtung wird eine horizontale Ausrichtung dominant. Dies bedeutet, dass sich die Mitarbeiter auf externe oder interne Kunden und Lieferanten und den Prozess statt auf den Manager konzentrieren. Es muss ein gemeinsames Interesse entwickelt werden, um einen optimalen Arbeitsablauf im Rahmen der Richtlinien, Grundsätze und des allgemeinen Planungsrahmens aufrechtzuerhalten. Die ständige Erneuerung von Produkten, Märkten, Strukturen oder Prozessen prägt eine Organisation, die zu einem Lernsystem wird.
Schließlich muss eine tiefgreifende menschliche Entwicklung sicherstellen, dass die neu gewonnenen Verantwortlichkeiten ständig in sich verändernde Situationen übertragen werden. Es sollte das Ziel sein, dass Einzelpersonen und Gruppen in gewissem Umfang für Teile der Planung verantwortlich sind. Folglich sollte es keine festgeschriebenen Verordnungen geben, sondern auf Zusagen abzielen, die Raum für eigene Initiativen und mehr Partizipation lassen.
Die beschriebenen Elemente der integralen Phase sind bei SEKEM noch nicht gelebte Realität, weil das Top-Management die Vorgehensweise bestimmt. Eine Weiterentwicklung hin zu einem lebendigen Organismus als Leitbild der integralen Phase kann nur erreicht werden, wenn sich die Mentalität der derzeitigen Führung und auch der Belegschaft von SEKEM grundlegend verändert. Um die Integration der kulturellen, technisch-instrumentellen und sozialen Subsysteme zu erreichen, ist eine neue Organisationsstruktur erforderlich, die sich erheblich von den vorherigen beiden Phasen unterscheidet.
Die Pionierphase ist durch eine flache, breite Organisationsstruktur gekennzeichnet, die von einem heroischen und visionären Führer angeführt wird. Die Differenzierungsphase bildet eine tiefe, pyramidenartige Form mit konstituierender und kontrollierender Führung. Und die dritte Phase fordert das Konzept einer “Prozessorganisation”. Die Aufgabe des Top-Managements muss es werden, Ziele für das gesamte System zu erstellen und die notwendigen Werkzeuge für Prozessabläufe und ein schnelles Informationssystem zu integrieren. Der Führungsstil in Richtung des mittleren und unteren Managements verlagert sich von der vorherigen Art der Führung und Kontrolle hin zu einer Anregung der Menschen, Fragen zu stellen, Urteile zu fällen und Initiative zu ergreifen. Dabei ist ein gesundes zwischenmenschliches Miteinander und eine Feedback- und Vertrauenskultur unabdingbar.
Zwischenmenschliche Beziehungen begrünen
Um diese neue Kultur des Zusammenarbeitens zu formen und einen Nährboden für die Entwicklung des sozialen Systems innerhalb der Organisation zu schaffen, bedarf es einen bewussten Umgang miteinander. Oftmals verfallen Menschen in die klassische Dynamik von Opfern, Tätern und Rettern, die versuchen, sich gegenseitig die Verantwortung in die Schuhe zu schieben. Dies kreiert ein niederes Drama, das oftmals in Anschuldigungen und Enttäuschung mündet, getrieben durch die Angst des Identitätsverlustes des Egos eines jeden einzelnen. Das anzustrebende höhere Ziel zwischen Menschen, die einem gemeinsamen Zweck dienen wollen, fängt damit an, voll in die eigene Verantwortung zu treten und ehrlich mit seinen Gefühlen umzugehen. Dabei kann man Gefühle durchaus als positiven Antrieb zur Veränderung und zur Lösung von Problemen nutzen. Doch das sind die meisten Menschen nicht gewohnt und um uns herum besteht oftmals ein Eindruck der sozialen Wüste, in dem sich Menschen allein gelassen fühlen. Oftmals haben Menschen Angst, ihre ehrliche Meinung zu äußern, die für die Evolution der Organisation vielleicht entscheidend sein könnte.
Als Teil einer neuen Generation möchte ich zum begrünen der menschlichen Beziehungen aufrufen und daran erinnern, dass es viele Parallelen zwischen dem sozialen System einer Organisation und der Qualität des Bodens unserer Landwirtschaft gibt. Je gesünder die sozialen Beziehungen, desto besser werden die individuellen Potenziale der Menschen gedeihen können. Vielleicht sind Vertrauen, Aufrichtigkeit und Mut die sozialen Präparate, die wir für den (bio)dynamischen Wandel unserer Organisationen brauchen.
Maximilian Abouleish-Boes
Fotos Copyright: Demeter im Norden/Bäuerliche Gesellschaft e.V.
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