Nach dem Tod von SEKEM Gründer Ibrahim Abouleish, hat ein Organisationsentwicklungsprozess begonnen, der mit dem Namen SEKEMsophia getauft wurde. Der folgende Bericht ist Teil einer Artikel-Reihe, mit der SEKEM alle Freunde und Partner über die Entwicklungen hinsichtlich dieses Prozesses auf dem Laufenden halten möchte.
Wenn wir uns typische Organisationsstrukturen eines Unternehmens anschauen, erinnern diese oft an die Form von Nadelbäumen – beispielsweise die typischen Kasuarinen-Bäume in SEKEM oder auch die Weihnachtsbäume in Europe, die zu dieser Jahreszeit mit vielen bunten Kugeln und einem glänzenden Stern an der Spitze geschmückt werden. Diese Baummodelle stellen allerdings weder dar, wie eine Organisation in der Realität wirklich funktioniert, noch geben sie den neusten Stand wieder. Die informelle Organisation und Entscheidungsdynamik unterscheidet sich meist sehr von den offiziellen Titeln und Tätigkeitsbeschreibungen – nicht nur in Ägypten und nicht nur in SEKEM.
Helmy Abouleish, der neu ernannte Vorsitzende aller SEKEM-Institutionen, hat sich kürzlich mit dem institutionellen Umfeld von SEKEMs kulturellen Aktivitäten auseinandergesetzt. Für alle Stiftungen wurden neue Vorstandsmitglieder gewählt, die in SEKEM arbeiten und leben (auch von der jüngeren Generation), und ganz konkret mit den jeweiligen Einrichtungen im Alltag verbunden sind. Alle Aktivitäten und Führungsstrukturen werden mit Hilfe von „Glassfrog“, einer Software, die unter anderem die Visualisierung der Projektlandschaft unterstützt, sichtbar gemacht. Wie verändern sich dadurch Arbeitsalltag und Arbeitsgeist in SEKEM?
Jeder Kreis und jede Rolle hat einen klaren Zweck (Grund der Existenz), Verantwortlichkeiten (was andere von der Rolle oder dem Kreis erwarten können) und manchmal spezielle Zuständigkeiten, die eine Rolle beziehungsweise ein Kreis kontrollieren. Menschen füllen Rollen aus oder übernehmen die Führung von Kreisen. Darüber hinaus bildet jeder einzelne Kreis alle Projekte der unterschiedlichen Rollen sowie Kriterien und Kontrolllisten ab, die dann regelmäßig, in sogenannten taktischen Treffen, näher betrachtet werden. Ein Kreis repräsentiert nicht unbedingt eine juristische Organisation. So sind beispielsweise alle Stiftungen zusammen in einem SEKEM Stiftungskreis, der sich wiederum aus mehreren Unterkreisen zusammensetzt. Darin sind beispielsweise alle Institutionen der SEKEM Stiftung für Entwicklung, aber auch andere Einrichtungen wie die Ägyptische Vereinigung für Biodynamische Landwirtschaft.
„Was wir früher oft nach Gefühl gemacht haben, wird jetzt viel bewusster und strukturierter umgesetzt. Am Anfang habe ich mich mit all den Formalitäten und der Transparenz nicht so ganz wohlgefühlt. Mittlerweile sehe ich aber immer mehr den Sinn hinter dieser Klarheit – auch weil ich erkannt habe, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen dadurch nicht ersetzt werden.“
Yvonne Floride, Kunst-Dozentin an der SEKEM Schule und Heliopolis Universität
Gefühl für SEKEMs Komplexität entwickeln
Die ganze SEKEM Initiative aus der Vogelperspektive in Kreisen zu sehen, fühlt sich natürlicher an, als ein Papier mit einer Sammlung mehrerer Baummodelle oder Stellenbeschreibungen. Diese Art der Führungsstruktur ist nicht statisch, sondern lebendig und kann eine Echtzeit-Referenz für unsere tägliche Orientierung werden. Über ein Jahr hat es gedauert, bis die Struktur zu dem wurde, was sie heute ist – und jede Woche kommen neue Veränderungen hinzu.
„Jetzt, wo sich die Mitarbeiter der SEKEM Stiftungen regelmäßig sehen, werden wir uns der kulturellen Aktivitäten viel bewusster. Für das Gesamtverständnis von SEKEM ist das sehr hilfreich.“
Dr. Mohamed Al Zahar, Leiter SEKEM Medical Center
Mit dieser neuen Perspektive erhalten wir ein bedeutend besseres Gefühl für das Gesamtgefüge SEKEMs und bringen Details ans Licht, die vorher nicht im Mittelpunkt standen.
Rollen von Seelen unterscheiden
Die Visualisierung der Strukturen und die daraus entstehende Klarheit über die verschiedenen Zwecke und Verantwortlichkeiten, war für viele SEKEM Mitglieder sehr aufschlussreich. Gleichzeitig war es zunächst nicht einfach, diese Art der Transparenz zu schaffen. Denn: der aktuelle Erfolg von SEKEM wurzelt noch in einer starken Pionierkultur, die von einem hohen Grad an Improvisation, informeller Organisation und starker Führung von oben geprägt ist. Sicherlich werden wir gewisse Elemente in speziellen Zusammenhängen beibehalten, sind aber überzeugt davon, dass mehr Klarheit über die Verantwortungsbereiche anderer keine Nachteile bringen wird. Im Gegenteil, es kann ermutigend und inspirierend sein, wenn man genau weiß, was von einem erwartet wird und was ich von anderen erwarten kann. Gleichzeitig können diese Strukturen eine positive Auswirkung auf die innere Motivation haben. Durch das wachsende Bewusstsein über die ganze Organisation und meine Rolle darin, entwickelt sich automatisch mehr Herzblut und Verbundenheit zu meiner Arbeit.
„In SEKEM ist die Versuchung groß, an 100 verschiedenen Dingen gleichzeitig zu arbeiten. Dadurch entsteht die Gefahr, den Fokus zu verlieren. Die wahre Herausforderung besteht darin, ‚nein’ zu Dingen zu sagen, die wir nicht schaffen können, um den Fokus auf unsere Kernverpflichtungen nicht zu verlieren.“
Thomas Abouleish, Leiter Unternehmenskommunikation
Wenn wir herausfinden, wo tatsächlich die fehlenden Kapazitäten (Rollen und Fähigkeiten) oder Unklarheiten (Rollen oder Verantwortlichkeiten) sind, können wir viel bewusster und effizienter an Verbesserungen für das ganze SEKEM-Gefüge arbeiten. Wenn Menschen über ihre Rollen und Verantwortlichkeiten hinausgehen, dann mag das zunächst heldenhaft erscheinen. Eigentlich hindert dies SEKEM jedoch daran, sich strukturell an die Herausforderungen anzupassen. Wir müssen lernen, uns mit Spannungen auseinanderzusetzen und es wagen, sie ohne Angst vor persönlichen Konflikten auszusprechen – wir sollten im organisationalen Kontext sehr wohl reif genug sein, unsere Rollen von persönlichen Belangen zu trennen.
„Eigenverantwortlichkeit und das Verfolgen einer gemeinsamen Vision im Gegensatz zu Fremdbestimmung und dem Dienen einer Autorität, sind Fragen der Bewusstseinsentwicklung.“
Helmy Abouleish, Geschäftsführer SEKEM
Manchen Mitarbeitern mag eine Rolle wie eine Stellenbeschreibung erscheinen, und ein Kreis gleicht einer Abteilung oder Organisation – sicherlich gibt es Persönlichkeiten, die auf eine Autorität angewiesen sind, die ihnen vorschriebt, was zu tun ist. Es ist aber auch klar, dass etliche Mitarbeiter einen viel besseren Job machen würden, wenn sie genau wüssten, was von ihnen erwartet wird. Wie wäre es, wenn wir natürliche Gewohnheiten entwickeln, in deren Rahmen wichtige Dinge regelmäßig überprüft werden? Wie würde es aussehen, wenn wir belastbare Systeme schafften, die fehlendes Bewusstsein ausgleichen könnten? Wie können wir für Klarheit, Effizienz und Verantwortung sorgen und gleichzeitig menschliche Entwicklung, Beteiligung und eine tiefe Verbundenheit zu SEKEM fördern?
Frische Luft einatmen
Mit Hilfe von „Glassfrog“ entsteht nun ein neuer Impuls, durch den, im Laufe der Zeit, eine neue Kultur geschaffen werden kann. Die erste gemeinsame Vorstandssitzung aller SEKEM Stiftungen fand am 29. Juli 2017 statt. Dabei kamen alle neu ernannten Vorstandsmitglieder zusammen und beschäftigten sich mit dem Stand der Dinge und laufenden Projekten. In den darauffolgenden Monaten fasste jede Einrichtung ihre Zielsetzungen für das kommende Quartal zusammen, um so transparente Prioritäten zu schaffen. Diese Art von Treffen finden nun monatlich statt. Außerdem sollen alle Unterkreise sich wöchentlich zusammensetzen, wodurch die Verantwortlichkeiten gestärkt, und bewusste zwischenmenschliche Begegnungen gefördert werden.
Seitdem Helmy Abouleish die Nachfolge seines Vaters Ibrahim Abouleish angetreten ist und zum Leiter aller Stiftungen wurde, weht ein frischer Wind durch SEKEMs kulturellen Aktivitäten. Der SEKEM Geschäftsführer ist, stärker als sein Vater, in den wirtschaftlichen Bereichen SEKEMs tätig, und bringt dadurch neue Elemente ein, die auch eine operative Effizienz fördern, wodurch Potenzial für Veränderungsimpulse entsteht. Die wachsende Klarheit und Transparenz in Bezug auf Projekte und Zahlen ermutigt die Menschen, aktiver Verantwortung in ihren jeweiligen Bereichen zu übernehmen. Dennoch braucht der Rhythmus und die grundlegende DNA des kulturellen Lebens Freiheit und eine eher zirkulare Herangehensweise an Entwicklung, was uns zurück zu dem Bild der Kreissymbolik führt. Wenn wir uns also die Kasuarinen-Bäume oder den geschmückten Weihnachtsbaum in Erinnerung rufen, sollten wir uns nicht nur auf die Pyramidenform oder die glitzernden Kugeln und glänzenden Sterne an der Spitze konzentrieren, sondern auch ihre organische Form und strukturelle Ausrichtung beachten, bei der jede kleine Tannennadel einem größeren Zweck dient.
Maximilian Abouleish-Boes
SEKEMsophia: Der Phönix aus der Asche
Die Struktur der SEKEM Holding