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„SEKEM hat alles, was die großen Utopien der Menschheit pathetisch verkündeten!“

Rupert Neudeck im Interview mit SEKEM Insight

Beinahe zur gleichen Zeit als Dr. Ibrahim Abouleish mit der Gründung SEKEMs ein „Wunder in der Wüste“ realisierte, vollbrachte Rupert Neudeck am anderen Ende der Welt ein vergleichbares Wunder: Er rettet mit der Cap Anamur tausenden vietnamesischen Flüchtlingen das Leben. Kürzlich besuchte der weltbekannte Menschenrechtler bereits zum zweiten Mal die SEKEM Gemeinschaft. Im Interview mit SEKEM Inisght erklärt der Humanist Rupert Neudeck warum SEKEM „alles hat was die großen Utopien der Menschheit verkündeten“ und wie sich seine Hilfsorganisation Grünhelme und SEKEM gemeinsam für Flüchtlinge einsetzen könnten.

SEKEM Insight: Herr Neudeck, Sie sind als Menschenrechtler und Aktivist weltweit bekannt und unterwegs. Mit der Cap Anamur sind Sie in die Geschichte eingegangen. Scheinbar rastlos setzen Sie sich für Menschen ein und schaffen es immer wieder kleine Wunder wahr werden zu lassen. Nun haben Sie SEKEM bereits zum zweiten Mal besucht und wiederholt betont, dass Ihnen SEKEM als eine Welt erscheint, die Sie auf Erden nicht zu finden gehofft hätten.  Was fasziniert Sie so an SEKEM?

Rupert Neudeck: SEKEM hat alles, was die großen Utopien der Menschheit pathetisch verkündeten, aber ohne ideologischen, ja auch ohne utopischen Ballast. Die Vorstellung der Produzenten-Gemeinschaft, die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, das Zusammenstimmen von Natur und Zivilisation, das alles war bisher in den großen Utopien angekündigt. Manche dieser Utopien versandeten und brachen zusammen. SEKEM aber ist von dem langen Atem eines Gründers gebaut und aufrechterhalten worden. Zusätzlich ist das Ganze noch eingehüllt von einer unsichtbaren Wolke der Toleranz und des Wohlwollens. Dazu kommt die ganz wichtige Tatsache, dass SEKEM aus eigener Kraft lebt anstatt sich durch Fürsorge und Subventionen über Wasser zu halten. Das was Albert Camus von Sisyphos geschrieben hat, gilt für die Menschen, die ich in SEKEM erlebe: Ich kann sie mir glücklich vorstellen.

“Die Grundideen und Voraussetzungen für eine zukünftige Gesellschaft sind in SEKEM angelegt.”

SI: Wie überhaupt hat sich der Kontakt zwischen SEKEM und Ihnen ergeben?

R.N.: Über Vorträge in Waldorfschulen, die übrigens zu wunderbaren Aktionen führten. Es konnten Spenden (40.000 Euro) gesammelt werden die beispielsweise eine ganze Schule in Afghanistan realsierten. So kam ich auch in den Kontakt mit einer sehr wichtigen Monatszeitschrift, die mir manchmal wie das publizistische SEKEM erschien: Auch ein ganz weiter Atem, und eine offene Tribüne, in der Menschenhass und Misstrauen keinen Platz haben. Darüber entstand dann auch der lesende Kontakt mit Ibrahim Abouleish durch sein Buch „Die SEKEM-Symphonie“. Ich entwickelte den Wunsch, dieses kleine utopische Kleinod zu besuchen, um mich von dessen Wirklichkeit zu überzeugen.

SI: Was hat sich in SEKEM seit Ihrem ersten Besuch in 2011 geändert oder was haben Sie Neues entdecken können?

R.N.: Ich konnte die Heliopolis Universität mit eigenen Augen sehen, die ich im umgangssprachlichen Sinn des Wortes für utopisch gehalten hatte. Jetzt war sie tatsächlich Wirklichkeit… Mein diesjähriger  Besuch war allerdings auch von Sorge geprägt. Wie kann ein solcher Organismus im Chaos der wechselnden Systeme und Autoritäten nach dem Ende des Systems, das durch Nasser, Sadat, Mubarak begründet war, bestehen? Zu meiner großen Freude konnte ich feststellen, dass SEKEM die Situation offenbar gemeistert hat. Um dies allerdings noch ausführlicher beantworten zu können, müsste ich ein drittes Mal kommen, und dann auch ein paar Tage länger bleiben…

SI: Soweit wir wissen, ist das SEKEM-Modell weltweit einmalig und auch nicht übertragbar, da die Herausforderungen und Probleme in den einzelnen Ländern jeweils andere sind. Denken Sie trotzdem, dass auch die europäischen Länder etwas von der SEKEM-Vision übernehmen und lernen könnten?

R.N.: Ja, gewiss! Das SEKEM-Modell wurde sehr individuell von einem Ägypter aus dem Niltal begründet. Dennoch: Die Grundideen und Voraussetzungen für eine zukünftige Gesellschaft sind hier angelegt – die Natur soll geschont werden, oder verschont werden; die Produktion soll sich schonend entwickeln und dennoch auf dem Markt behaupten. Die Menschen sollen sich in ihren angestammten Glaubensrichtungen, Religionen, Weltanschauungen bequem und sicher einrichten können und keine Sorgen haben, dass sie etwas davon aufgeben müssen. SEKEM ist ein Modell für ganze Landstriche in Europa, die aufgrund unserer europäischen Urbanismus-Revolution kaputt- und eingehen. Ländliche Bereiche verschwinden demnächst und könnten durch solche Produktionsgenossenschaften, die gleichzeitig Freundschaftsverbände sind, wie ich die SEKEM-Gemeinschaft sehe, wieder aufgepäppelt werden.

SEKEM ist der Gegenentwurf zu einer Welt der abgetrennten Dimensionen.”

SI: Sie sind nicht nur ein Mann der Taten, sondern als promovierter Philosoph und Germanist auch Geisteswisenschaftler. Ihre Doktorarbeit haben Sie über „Die politische Ethik bei Jean-Paul Sartre und Albert Camus“ geschrieben und mit dem humanitären Schriftsteller und Aktivisten Heinrich Böll haben Sie engstens zusammengewirkt. Welche Bedeutung haben die Geisteswissenschaften in Ihrem Leben und wie wurde Ihre praktische Arbeit dadurch beeinflusst?

R.N.: Ich habe diese Doktorarbeit als ein außergewöhnliches Glück empfunden, denn meistens muss man eine nichtsnutzige akademische Fingerübung für eine solche Arbeit hinlegen. Ich bekam die einmalige Chance, mich in das Denken und Leben von zwei ganz großen Literaten und Philosophen der Nachkriegszeit hineinzuversetzen. Außerdem hatten diese beiden noch das Zeug, uns unmittelbar etwas für die kommende humanitäre Arbeit mitzuteilen. Nächst dem Evangelium war der Roman „Die Pest“ von Albert Camus geradezu ein Vademecum für mich und alle anderen humanitären Helfer, seien sie nun Ärzte, Bautechniker, Handwerker oder Ingenieure. Ansonsten ist die Zeit des Studiums für mich sehr wertvoll gewesen, hat mich aber auch manchen Dünkel in den Wissenschaften entdecken lassen, von dem ich später bei der handfesten Arbeit mit Zimmerleuten, Maurern, Dachdeckern oder Krankenschwestern geheilt wurde.

SI: In SEKEM nimmt kulturelles Leben den gleichen Stellenwert ein wie Soziales, Ökologie und Wirtschaft. Können Sie diesen Ansatz nachvollziehen beziehungsweise sehen Sie die Bedeutung der Gleichberechtigung dieser vier Dimensionen als ebenso wichtig wie wir in SEKEM?

R.N.: Diese vier Dimensionen sind für jeden Bürger eines freien Landes sehr wichtig. Für mich stellt die Religion eine fünfte Dimension dar, die SEKEM auch vertritt, aber auf eine stille, nicht laut schreiende Weise. SEKEM ist der Gegenentwurf zu einer Welt der abgetrennten Dimensionen, wie wir sie in der europäischen Zivilisation haben. Wir brauchen vier verschiedene Ministerien, Arbeitsbereiche, Mauern und Zäune zwischen den Dimensionen. Das Geniale an SEKEM: Selbst wenn es da Zäune und Absperrungen geben sollte, man kann sie nicht sehen.

Rupert Neudeck SEKEM
“Was Albert Camus von Sisyphos geschrieben hat, gilt für die Menschen, die ich in SEKEM erlebe: Ich kann sie mir glücklich vorstellen.”

 

SI: Als Retter der sogenannten „boat people“ wurden Sie zu einer Legende und setzen sich bis heute unermüdlich für Flüchtlinge weltweit ein. Wie schätzen Sie die Situation der steigenden Flüchtlingszahlen in Ägypten ein?

R.N: Die Flüchtlinge werden in Ägypten nicht wirklich angenommen. Der Staat hat so viel mit seiner Sicherheitspriorität zu tun, dass er sich um Flüchtlinge nicht kümmert. Die Regierung könnte natürlich Flüchtlinge aus Afrika sich ansiedeln lassen, aber das wird strikt abgelehnt. Dennoch hoffe ich, dass sich durch die Konsolidierung der Verhältnisse auch in Ägypten Menschen friedlichen werden, niederlassen und produzieren können.

SI: Wie kann SEKEM dazu beitragen die Situation der Flüchtlinge in Ägypten zu verbessern?

R.N.: Es gibt einige Gruppen unter den afrikanischen Flüchtlingen, wie die Eritreer und auch die Somalis, die nicht in ihre Heimat zurückgehen können. Ihnen sollten zumindest bessere Chancen geboten werden, sich für die EU oder die USA, Kanada zu qualifizieren, beispielsweise über eine Berufsausbildung. Ich sehe da in Europa und Deutschland gute Möglichkeiten. Wir könnten versuchen, in den bestehenden Strukturen von SEKEM eine Berufsausbildung zu organisieren.

SI: Sie waren jüngst mit Ihrer Organisation Grünhelme in SEKEM, die sich für den Bau beziehungsweise Wiederaufbau von Gemeindeinfrastrukturen sowie sozialen, ökologischen, kulturellen und religiösen Einrichtungen einsetzt.Wie kann man sich eine evtl. Kooperation zwischen den Grünhelmen und SEKEM vorstellen?

R.N.: Ich könnte mir eine solche Kooperation sehr gut vorstellen. Die Grünhelme haben unprogrammatisch und unausdrücklich von Geburt an wesentliche Teile der SEKEM-Philosophie eingesogen. Durch eine Kooperation in Gestalt einer Berufsausbildung und einem Produktionsbetrieb für die Eritreer und Somalis kann sich eine gegenseitige Wertschätzung der Arbeiten und Arbeitsmodalitäten sehr gut ergeben.

“Ich sehe SEKEM im Widerstand gegen den Wachstums- und Wohlstandswahn, den Geiz und Geld-Wahn.”

SI: In Ihrem neusten Buch „Radikal leben“  machen Sie deutlich „wie aktuell und überlebensnotwendig gelebter Widerstand, radikales Umdenken und mutiges Eingreifen sind – für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen“. Wo sehen Sie diese Radikalität in SEKEM?

R.N.: Einmal in der Unbedingtheit, mit der der Gründer Ibrahim Abouleish und seine Mitarbeiter über Jahre und Jahrzehnte das Unternehmen vorangetrieben und niemals aufgegeben haben – das ist eine Widerstandsleistung par excellence. Zum anderen sehe ich SEKEM im Widerstand gegen den Wachstums- und Wohlstandswahn, den Geiz und Geld-Wahn, den ich in der Zukunft meinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern lieber ersparen möchte. An SEKEM ist fast alles radikal, aber ohne dass es eine Werbeabteilung gibt, die uns und den Besuchern das auf Schritt und Tritt weismachen will.

Interview: Christine Arlt

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