Mittlerweile weiß Esraa, was sie vom Leben erwartet und welche Ziele sie verfolgt. Dass dies nicht immer so war, verrät ein Blick in ihre Lebensgeschichte. Die 25-jährige Lehrerin unterrichtet Kunst an der SEKEM Schule. Für die Schüler der Klassen zwei bis neun gibt sie Kurse im Zeichnen und Malen. Erst seit einem Jahr weiß Esraa, dass sie Lehrerin werden möchte – obwohl sie schon seit zwei Jahren an der Schule tätig ist. „Es war früher nie mein Traum, eines Tages Lehrerin zu werden“, erzählt sie. „Nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte, versuchte meine Mutter mich zu überreden auf Lehramt zu studieren. Für mich kam das aber damals nicht in Frage“. Stattdessen beschloss Esraa Buchhaltung zu lernen.
Als die Älteste von drei Kindern musste sie schon immer versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen und konnte nicht in die Fußstapfen des älteren Bruders oder der älteren Schwester treten. Aufgewachsen ist sie in Ezbet El-Deep im Regierungsbezirk Al Sharqia. Ihr Vater war Tierarzt, die Mutter kümmerte sich um die Kinder und den Haushalt. Um die finanzielle Situation der Familie zu verbessern, zog ihr Vater nach Kuwait. Mit 11 Jahren folgte Esraa ihm, zusammen mit dem Rest ihrer Familie. Sie ging dort zur Schule und als sie mit 18 Jahren zurück nach Ägypten kam, begann sie ihr Studium.
Schon während ihrer Schulzeit hat Esraa zusammen mit ihrer Klasse SEKEM besucht. Später, während ihres Studiums, wurden erneut Ausflüge zur SEKEM Farm angeboten, an denen sie teilnahm. Auf einem dieser Ausflüge kam sie ins Gespräch mit einer Lehrerin der Schule, die ihr erzählte, dass SEKEM gerade neue LehrerInnen sucht – für Informatik und Kunst. Da Esraa schon seit ihrer Kindheit gerne malt und zeichnet und nicht wirklich glücklich mit ihrem Studium war, beschloss sie kurzerhand sich auf die Stelle zu bewerben. „Für mich war damals ausschlaggebend, dass in SEKEM über gewisse Dinge anders gedacht wird. Zum Beispiel sind die Lehrer und auch der Unterricht viel mehr an die Bedürfnisse der Schüler angepasst im Vergleich zu vielen anderen Schulen in Ägypten“, erklärt Esraa ihre Entscheidung. Das damit auch der ursprüngliche Wunsch ihrer Mutter für sie in Erfüllung ging, war ihr im ersten Moment nicht wirklich bewusst.
„Es wäre sehr gut für unser Land, wenn wir mehr Frauen in der Regierung oder Führungspositionen hätten.”
Seit ihrer Tätigkeit in SEKEM ist es Esraa ein großes Anliegen, das Bildungssystem in Ägypten zu verbessern. Ägypten wurde 2013 von dem World Economic Forum für die Qualität der Grundschulen von 148 Ländern auf den letzten Platz gewählt. Laut Esraa fehlt es an gut ausgebildeten Lehrern: „Wir brauchen Menschen, die mit großer Leidenschaft und voller Überzeugung unser Bildungssystem verbessern möchten”. Auch die Stellung von Frauen in Ägypten sieht Esraa kritisch. Viele Frauen glauben nicht an sich und sind zu sehr von ihren Männern abhängig. „Es wäre sehr gut für unser Land, wenn wir mehr Frauen in der Regierung oder Führungsposition hätten. Wir Frauen müssen nur erkennen, wie wichtig wir für eine Gesellschaft sind und welche Stärke wir haben“, gibt sich Esraa kämpferisch. In SEKEM hat sie mit einigen Schülern ein Projekt zur Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau durchgeführt. Auch dabei ist ihr wieder aufgefallen, wie unterschiedlich sich die Jungen und Mädchen wahrnehmen. „Durch verschiedene Rollenspiele konnten die Schüler in die andere Perspektive eintauchen und ich hoffe, dass es ihnen in der Zukunft hilft, eine gleichberechtigte Gesellschaft mitzugestalten“.
Eine eigene Familie hat Esraa noch nicht gegründet – auch weil sie noch auf der Suche nach dem richtigen Mann ist. Dabei ist für sie wichtig, dass derjenige aufgeschlossen und in der Lage ist, ihre Wünsche und Ansichten zu verstehen und zu respektieren. Auch über eigene Kinder hat sich Esraa schon Gedanken gemacht. „Ich hatte immer die Vorstellung, dass ich ein Kind adoptieren und es alleine großziehen werde“. Als ihr Vater jedoch vor einigen Jahren verstarb, wurde Esraa der Unterschied zu einer alleinerziehenden Mutter bewusst. Seitdem kann sie sich auch vorstellen, irgendwann eigene Kinder zu haben und sie mit einem Mann gemeinsam zu erziehen. Wenn es soweit ist, möchte die selbstbewusste Lehrerin weiterhin arbeiten gehen. „Ich weiß, dass es anstrengend sein wird. Aber ich werde versuchen, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bekommen“.
„Ich lebe quasi im Bus.“
War sie zu Beginn ihrer Tätigkeit noch etwas skeptisch ist sie mittlerweile überzeugt, den richtigen Beruf gefunden zu haben. „Mit Kindern zu arbeiten, ihnen etwas beizubringen, zu sehen wie sie es verstehen und stolz auf ihre Arbeit sind, das sind für mich die schönsten Momente während der Arbeit“. Dabei legt die junge Lehrerin viel Wert auf einen guten Umgang mit den Kindern. „Es ist wichtig zu erkennen und zu akzeptieren, dass jedes Kind unterschiedlich ist. Es gibt kein Richtig oder Falsch – vor allem nicht in der Kunst. Jeder Mensch hat seine eigene Art Dinge oder, um bei der Kunst zu bleiben, Farben zu sehen“.
Esraa kann als klassische Quereinsteigerin betrachtet werden, die mit viel Einsatz und Wille ihre Leidenschaft zum Beruf entwickelt hat. Für ihre Zukunft hat sie schon konkrete Pläne. „In einem Jahr möchte ich eine eigene Wohnung haben – am liebsten in der Nähe der SEKEM Farm“. Zurzeit braucht sie fast vier Stunden für den Weg zur Arbeit und wieder zurück nach Hause. „Ich lebe quasi im Bus“, erzählt sie mit einem Lachen. An Wochentagen steht sie um 5 Uhr morgens auf und ist gegen 7 Uhr abends wieder Zuhause. In ihrer wenigen Freizeit liebt sie es zu kochen und zu lesen. Esraa kann sich gut vorstellen, auch die nächsten Jahre für SEKEM zu arbeiten. Einen kleinen Traum für die Zukunft hat sie allerdings noch: „Irgendwann würde ich gerne eine Art Kunstverein gründen, in dem sich Künstler austauschen können und wir anderen Menschen etwas über Kunst beibringen können. Denn Kunst ist für mich etwas Wunderschönes, an dem so viele Menschen wie möglich teilhaben sollten“.
Nils Daun
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