Dr. Michael Succow setzt sich seit Jahrzehnten auf der ganzen Welt für den Schutz der Natur ein. 1997 ist er für seine Arbeit mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet worden. Mit SEKEM News sprach Dr. Michael Succow über das SEKEM-Modell, seine Liebe zur Natur und vor welchen Herausforderungen die heutige Generation steht.
SEKEM News: Gerade haben Sie an der Heliopolis Universität für nachhaltige Entwicklung einen Vortrag über Biosphärenreservate gehalten. Wie ist ihr erster Eindruck?
Dr. Michael Succow: Ich bin sehr bewegt. Heute Vormittag habe ich die SEKEM Farm kennengelernt und nun die Heliopolis Universität für nachhaltige Entwicklung. Hier scheint es nicht so zu sein, dass Wissenschaftler eine Idee haben und diese dann umsetzen, wie es normalerweise weit verbreitet ist. Hier ist ein stark pragmatischer Hintergrund zu spüren. SEKEM praktiziert seit 39 Jahren nachhaltige Entwicklung und ist zu einem immer größeren Gesamtunternehmen geworden, das mit dem Land nachhaltig umgeht und ökologische Produkte herstellt, die einen Wert haben und ein Kulturgut sind. Damit verbunden ist der Bildungsauftrag der Universität und der SEKEM Schulen, die etwas ganz Besonderes sind. Ich hätte das nicht erwartet – das übersteigt weit meine Hoffnungen. Hier ist etwas entstanden, das vielen Menschen Arbeit gibt, etwas Sinnvolles produziert und dazu einer großen Zahl von jungen Menschen, auch Frauen, Entwicklung ermöglicht. Das ist vor allem in der heutigen Zeit, die von so vielen negativen Entwicklungen geprägt ist, sehr beeindruckend. Der ganzheitliche Ansatz, die Integration von Kunst, Kultur und Technik und die Suche nach Alternativen, die sich mit unserer Lebensweise verbinden lassen, sind wirklich großartig. Ich habe etwas Vergleichbares in Schwellenländern noch nicht erlebt.
SN: Sie sind viel unterwegs und setzten sich für den Schutz der Natur ein – vor allem im asiatischen Raum. Wie kam Ihr Besuch in Ägypten zustande?
Dr. M.S.: Vor etwa sechs Jahren lernte ich Dr. Ibrahim Abouleish bei einem Treffen der Alternativen Nobelpreisträger kennen. Er ist mir in Erinnerung geblieben, weil er dieses große Projekt in Ägypten aufgebaut hat. Vergangen Sommer traf ich dann seinen Sohn Helmy Abouleish in Deutschland. Ich erzählte ihm von Äthiopien, wo wir zurzeit ein nachhaltiges Projekt in Form eines Biosphärenreservats umsetzen. Helmy hat mich daraufhin eingeladen, das SEKEM-Modell in Ägypten kennenzulernen.
Das SEKEM-Modell als Alternative
SN: Wie beurteilen Sie das SEKEM-Modell, eine nachhaltige Entwicklung vor Ort im Einklang mit Mensch und Natur zu betreiben nun, nachdem Sie es gesehen haben?
Dr. M.S.: Es ist gelungen. Viele wunderbare Initiativen und Utopien scheitern kurzfristig. Hier ist etwas von Menschen aufgebaut worden, die noch nicht frustriert sind, sondern nachhaltig etwas ändern wollen. Ich vergleiche solche Menschen immer mit Lokomotiven, die bereit sind, die beladenen Waggons hinter sich zu ziehen. Es gibt viele Menschen, die etwas Gutes tun wollen – aber wir brauchen dazu Lokomotiven, die motivieren und standhaft sind. SEKEM ist eine solche Lokomotive.
SN: Denken sie, dass SEKEM in dem Zusammenhang auch als Vorbild für westliche Unternehmen fungieren kann?
Dr. M.S.: Ja. Die SEKEM Firmen produzieren hochwertige Produkte unter guten Rahmenbedingungen und exportieren diese auch nach Europa. Dass es solche Partner gibt, von denen wir wissen, dass sie würdevoll mit der Umwelt und den Menschen umgehen, ist außerordentlich wichtig. Außerdem ist SEKEM für Deutschland ein wunderbarer Ansatzpunkt, um in den schwierigen Ländern, aus denen die Flüchtlingsströme kommen, eine gemeinsame Entwicklungszusammenarbeit zu betreiben, die nicht weiter zerstört, sondern vor Ort stabilisiert. Das ist ein Gewinn für beide Seiten und zeigt, dass es Alternativen gibt, die Hoffnung machen.
SN: Wie SEKEM und Dr. Ibrahim Abouleish sind auch Sie Träger des Right Livelihood Awards – auch als Alternativer Nobelpreis bekannt. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Dr. M.S.: Der Alternative Nobelpreis ist für mich eine besondere Auszeichnung. Er wurde von einem Menschen gestiftet, der Visionen hatte und sein Privatvermögen investierte, um neben Chemie, Physik oder Medizin auch Themen wie Ökologie und Menschenrechte Aufmerksamkeit zu verleihen. Es ist ein Preis, der geschaffen wurde, um dem zunehmenden Versagen der Zivilisation entgegenzuwirken – im Vergleich zum Nobelpreis, der zumeist für neue Erfindungen und Wissensfortschritte vergeben wird, die in der Regel dazu beitragen, dass Menschen sich weiter von ihren Wurzeln entfernen. Ich habe sicher vorher ruhiger gelebt. Jetzt bin ich von Visionen getrieben. Meine Frau hatte erwartet, dass ich mit 75 die Welt betrachte und Bücher lese, wie es sich als pensionierter Hochschullehrer gehört. Stattdessen beschäftige ich mich mit Menschen unterschiedlicher Religionen, Sozialisierungen und Kulturen, die sich ähnliche Gedanken und Sorgen um die Zukunft machen wie ich. Dort möchte ich als Bindeglied fungieren und Netzwerke aufbauen, die den Menschen Hoffnung geben und mit den Gleichgesinnten eine Kraft darstellen. Das ist in der heutigen Zeit sicher eine große Herausforderung, aber mich macht es glücklich.
„Ohne Liebe kann nichts Wesentliches entstehen“
SN: Mit dem Preisgeld für den Alternativen Nobelpreis haben Sie die Michael Succow Stiftung zum Schutz der Natur gegründet haben. Was sind ihre Hauptanliegen?
Dr. M.S.: Ich dachte zunächst, dass ich mit den 100.000 Deutsche Mark eine Stiftung gründen könnte. Aber das Geld ist verhältnismäßig wenig und ich habe schnell gemerkt, dass es ohne gemeinsame Verbündete nicht geht. Denn wie bei einem Schneeball kann mit der Unterstützung von Gleichgesinnten aus wenig sehr viel entstehen. Und so haben wir mit tiefen Idealen eine Stiftung aufgebaut, die nun an vielen Standorten und Brennpunkten in der Welt wirkt. Das sind in etwa 15 arme und schwierige Länder wie zum Beispiel die Nachfolgenationen der Sowjetunion oder auch Länder, die den Sozialismus erlebt haben, wie Kuba oder Äthiopien. Wir sind in viele Projekte involviert, die sich mit Biosphärenreservaten beschäftigen, um ökologische Wirtschaftsregionen zu entwickeln und ökologische Bildung voranzubringen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Erhaltung von Feuchtgebieten, die der Klimawandel vertrocknen lässt. Die Stiftung hilft, die Biodiversität zu stabilisieren und Alternativen in der Landnutzung zu suchen.
SN: Woher kommen Ihre Verbundenheit zur Natur und Ihr großes Engagement?
Dr. M.S.: Die Wurzeln werden ja meist in der Kindheit gelegt. Ich hatte eine sehr naturverbundene Mutter. Durch ihre tiefe Beziehung zur Natur ist auch meine Liebe zur Natur entstanden. Und Sie wissen ja, ohne Liebe kann nichts Wesentliches entstehen. Wenn man mit der Liebe dann die Verantwortung verbindet und mit der Verantwortung Handeln anstatt Reden, dann baut sich etwas auf. Außerdem braucht man in der heutigen Zeit eine vierte Komponente: das Wissen. Liebe, Verantwortung, Handeln und Wissen bilden eine Kette. Wenn man das verstanden hat, kann man nicht mehr anders als sich zu engagieren. Durch meine Arbeit kann ich etwas zurückgegeben und bin nicht nur ein Schmarotzer, der sich bereichern will. Und dann auf einmal ist man umgeben von vielen Menschen, die auch diese Ideale haben. So eine Gemeinschaft ist ein großes Glück.
SN: Sie haben einmal gesagt: „Der Schutz der Natur ist eine der bedeutendsten Sozialleistungen für die Zukunft“. Allerdings haben heue viele Menschen durch die Technisierung und Digitalisierung den Bezug zur Natur verloren. Was muss sich ändern, damit den Menschen der Schutz der Natur wieder wichtig wird?
Dr. M.S.: Ohne intakte Natur gibt es keine intakte Gesellschaft. Und wenn die Gesellschaft nicht intakt ist, dann gibt es auch keine gesunden Menschen. Das ist alles eine Einheit. Die Natur ist unsere Lebensgrundlage. Einige werden sich von der Natur entfremden. Gleichzeitig sehe ich in vielen Entwicklungsländern, wie die Menschen Naturerfahrung sammeln und wieder in die Natur eintauchen. Und ähnlich ist es auch in unserer Hochzivilisation. Bei Eltern kommen beispielsweise Kindheitserinnerungen hoch und sie wollen wieder einen Bauernhof, ein Pferd oder ein Stück Wiese erleben. Das sind Dinge, die trotz aller Entfremdung immer noch da sind. Ich habe einen ökologischen Garten, der mir viel Kraft gibt. Sonntags muss ich nicht in die Kirche gehen, sondern bin dort. Dann höre ich die Glocken läuten während ich meinen Humus, meine Regenwürmer und meine Früchte beobachte – das ist für mich wie ein Gottesdienst. Durch diese Naturberührungen versöhnen wir uns langsam wieder mit der Natur, anstatt mit Chemie und Technik gegen sie und das Leben zu kämpfen.
Wahrheiten sagen und die Jugend unterstützen
SN: Wenn wir vom heutigen Standpunkt und der jetzigen Entwicklung ausgehen: Wo sehen Sie unsere Welt in 50 Jahren?
Dr. M.S.: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich war kürzlich auf einer Konferenz mit Politikern und NGOs. Bei meinem Vortrag war der Ausgangspunkt, dass die Menschheit immer älter wird – in 83 Jahren haben wir 2100. Das ist ungefähr die Zeit eines Menschenlebens. Wenn ich sehe, was in diesem Menschenleben verändert werden muss, um noch die Kurve zu kriegen, bereitet mir das sehr große Sorgen. Wir wissen, dass es bald zu spät ist, aber tun so, als ob alles ewig so weiter gehen kann. Berthold Brecht hat einmal gesagt: „Und sie saßen auf den Bäumen. Und sie sägten an ihren Ästen. Und sie riefen sich freudig zu, wie man noch besser sägen könne und krachten in die Tiefe.“ So sieht es doch heute beinahe aus. Der Baum wird aber wieder ausschlagen und einen neuen Zyklus beginnen, allerdings ohne uns.
SN: Was muss sich ändern, damit das nicht passiert?
Dr. M.S.: Wir müssen die Wahrheit sagen, anstatt uns zu belügen, dass wir alles im Griff hätten. Früher wollte ich die Natur vor dem Menschen schützen. Ich sah mich als Anwalt der Natur. Mit zunehmendem Alter merkte ich, es geht nicht um die Natur, sondern um uns Menschen und um unsere Zukunft. Sind wir zukunftsfähig oder sind wir nur eine Episode in diesem großen ökologisch gebauten Haus Erde? Das Projekt Natur geht weiter und hat jedes Artensterben gemeistert. Die höheren Lebewesen starben aus und dann ging es immer wieder mit Bakterien und Viren von vorne los. Die Entfremdung der Natur, die die Zerstörung unserer Lebensgrundlage zur Folge hat und der globalisierte Kapitalismus, der nur wachsen und ausbeutet will, ist nicht zukunftsfähig. Die heutigen Gesellschaftsmodelle sind meiner Meinung nach zum Scheitern verurteilt. Andererseits erlebe ich in der Welt sehr viele Gemeinschaften, wie die SEKEM Initiative, die überlebensfähig sind und nicht auf Kosten der Natur wirtschaften, sondern die die Natur achten und sorgfältig damit umgehen. Es muss ein grundsätzliches Umdenken stattfinden, zu dem die Alten nicht mehr fähig sind. Die Jugend ist gefragt. Es muss wieder mit Demut von der Natur gelernt werden.
SN: Sie haben lange als Professor an der Universität gelehrt. Was versuchen Sie Ihren Studenten oder jungen Menschen mit auf den Weg zu geben?
Dr. M.S.: Zunächst brauchen die jungen Menschen Wissen. Sie müssen sich von einer Animationsgesellschaft lösen, die nur das Ziel hat, etwas zu verkaufen. Dann sollen sie sich Gedanken über den Energieverbrauch machen und darüber nachdenken, ob man wirklich denaturierte Lebensmittel kaufen muss, an denen nur Einzelne enorm viel verdienen. Es gibt immer Alternativen. Außerdem ist es wichtig, sich zusammenzuschließen und Netzwerke zu bilden – alleine kann man in einer Welt voller Wunden nicht bestehen. Durch gegenseitigen Halt kann man sich auch von dem Größenwahn, der Überheblichkeit und Arroganz lösen. Für junge Menschen in Deutschland ist es wichtig, in die Welt zu gehen und zu begreifen, dass wir einen Wohlstand genießen, den die Welt eigentlich schon lange nicht mehr tragen kann. Dabei dürfen sie dann nicht als die großen Macher auftreten, sondern sollten sich einfügen und mit Demut Projekte entwickeln, die wieder Hoffnung geben. Und immer im Hinterkopf behalten: Ohne Naturnutzung können wir nicht existieren. Zerstören wir die Natur, gehen wir auch zu Grunde. Dieser immer schmaler werdende Grad zwischen Erhaltung und Zerstörung kann nur einer Gesellschaft gelingen, die sich als Teil der Natur begreift und die Natur in der Ethik achtet.
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